1. Oktober 2015

Jede Zeit steht im Zeichen der Wahrheitssuche

„Jede Zeit steht im Zeichen der Wahrheitssuche.
Und wie schrecklich diese Wahrheit auch sein mag, sie kann durchaus zur Gesundung der Nation beitragen.“ – Andrej Tarkowski

(oder ihrer Abschaffung/ Anm. d. R.)
 
© "Jede Zeit steht im Zeichen der Wahrheitssuche" Tanja Vietzke 2014





Gesellschaftliche Krisen forcieren die Entwicklung herausragender Filmwerke, eigenwilliger kurzer und langer filmischer Formen als Dokumente ihrer Zeit.
Arbeiten des italienischen Neorealismus, der französischen Nouvelle Vague, des Neuen Argentinischen Kinos aber auch der Neue Deutsche Film? zeugen davon. Sie stellen Begriffe der Macht und Wahrheit genauso wie etablierte Formen der Repräsentation von Wirklichkeit in Politik, Wirtschaft oder Medien in Frage. Ins Auge fällt dabei die Suche nach radikalen Methoden zur Beschreibung der eigenen Realität mit Mitteln, die vehement die Grenzen zwischen Realität und Fiktion hinterfragen, verschieben oder einfach ignorieren. 

Gerade in der Reibung mit den Spielarten des fiktiven und non-fiktionalen Films manifestiert sich für mich die urmenschliche Motivation, sich im Hier und Jetzt zu verankern. Gerade in Zeiten des Umbruchs, der Krise und Transformation ist diese Verankerung ein Weg des Überlebens, aber auch eine Form aus bloßen Möglichkeiten konkrete Wirklichkeiten entstehen zu lassen. Das filmische Werk besitzt dann enormes performatives Potential, wenn es ihm gelingt, sich in die Sprache der subjektiven und objektiven Dinge einzumischen. Es hat die Kraft Menschen und Kontexte derart in Beziehung zu setzen, dass konstruktive Erfahrung und Veränderung begleitet, multipliziert oder sogar möglich gemacht wird und das am besten allein durch den schöpferischen Akt selbst.

Welchen Ansprüchen muss filmisches Schaffen gerecht werden?

Die Effekte gegenwärtiger medialer, ökonomischer und soziokultureller Umbrüche stellen Filmschaffende außerhalb der großen Verwertungsindustrien in Deutschland und der ganzen Welt vor immense Herausforderungen.
Digitale Räume und ihre interaktiven, demokratischen Potentiale haben seit den 90ern hierarchische und hermetische Formen der Medienproduktion und ihre linearen Narrative auf die Probe gestellt. Diese Entwicklungen haben einen Kampf um Einflussnahme und Gestaltungsmöglichkeiten ausgelöst. Dazu bedeuten die gegenwärtige Wirtschaftskrise und zunehmende Prekarisierung einen tiefen Einschnitt in soziale und ökonomische Zusammenhänge. Die Krise manifestiert sich auch in der Kollision unterschiedlicher medialer und medienpolitischer (Re)-Präsentationssysteme, stellt Institutionen und Verfahren gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion endgültig in Frage.

Die daraus resultierenden Entwicklungen sind spannend und verunsichernd zugleich. Wir haben „mehr als nur puren Nachholbedarf in der Entwicklung unserer Medienstruktur und moderner Programme“, merkt Martin Hagemann, Produzent und Vorstandsmitglied der AG DOK, pragmatisch an. In Deutschland zum Beispiel beschränken überholte Kategorien des Filmischen, die exklusiven und überregulierten Verfahren der Film- und Fernseharbeit, unzulängliche Film- und Medienförderung und veraltete Verwertungsmodelle noch immer audiovisionäres, in die Zukunft gewandtes Schaffen. Produzenten, Politik und Verwertungsbetriebe nehmen ihr vielschichtiges, schöpferisches Publikum hierzulande noch immer viel zu wenig wahr und ernst.

Wie sehen die Filme der Zukunft aus und was erzählen sie?


Gleichzeitig entwickeln sich parallele Realitäten der Filmarbeit und ernstzunehmende Gegenöffentlichkeiten. Das Experiment mit Erzählformen, Plattformen und Produktionsweisen, die Diskussion um andere Verwertungskonzepte für neue Öffentlichkeiten im digitalen Raum aber auch im Kunstfeld ist produktiver denn je. Oft jedoch verlieren sich die guten Ansätze der gekonnten Selbstermächtigung im Gerangel der staatlichen Institutionen, Medienkonzerne und privatwirtschaftlichen Akteure um Einflussnahme, Gewinne und Besitzansprüche. Es gelingt nur schleppend, die sich entwickelnden parallelen Realitäten in gemeinsamen Begriffen und Narrativen zu erfassen.

Die bisherige Auseinandersetzung um die Hoheit über Kategorien und Erzählweisen, Produktionsformen, Finanzierungsquellen und Präsentationsplattformen lässt wenig Raum dafür, fähige und audiovisionäre Ansätze relevanten filmischen Schaffens in Web, Kunst, Kino und für ein Fernsehen 2.0 unvoreingenommen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht, folgende Fragen zu beantworten:
 

Welche visionären filmischen Spielarten lassen sich in unserer Medienlandschaft und ihrem internationalen Kontext identifizieren? Welche herausragenden ästhetischen Verfahren und Produktionsweisen lassen sich beschreiben? Welche zukunftsfähigen Produktionsansätze und Verwertungsmodelle entstehen, und wie können sie weiterentwickelt werden? Welchen veränderten Ansprüchen müssen filmische Formate gerecht werden? 

Einen Teil dieser praktischen Forschung wird im Kontext der SEELAND Medienkooperative realisiert werden. Hier soll langfristig eine interaktive Plattform entstehen, die visionäres, relevantes filmaesthetisches Wissen vernetzt, vermittelt, zugänglich und fortschreibbar macht. Fokus meiner Arbeit hier liegt auf gegenwärtigen Tendenzen eines performativen filmischen Schaffens, das sich für eine mutige, faire und inklusive Medienproduktion engagiert.