14. Mai 2015

ARGENTINA VICE VERSA: Krise und Wirklichkeit im Neuen Argentinischen Kino (1998 - 2011)

von Anett Vietzke und Veronika S. Bökelmann
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Wie sehr neoliberale Modelle und ihr Scheitern die Formen von Arbeit und Familie, Privatsphäre und Öffentlichkeit verändert haben, zeigt das Neue Argentinische Kino wie kein anderes. Es entwickelt aus unbändiger erzählerischer Kraft und Humor ein eigenwilliges Bild der Gesellschaft.

aus BUENOS AIRES /SUENO Y CRISIS, Veronika S. Bökelmann und Anett Vietzke, 2014 >> Film anschauen



Bereits in den 90er Jahren kündigt sich die große Argentinische Wirtschaftskrise durch Massenarbeitslosigkeit, zunehmende Schließungen bedeutender Unternehmen und Kapitalflucht an. Dennoch steht die Bevölkerung unter Schock als die Regierung 2001 öffentlich den Bankrott des Argentinischen Staates erklärt.Die Abwertung der Landeswährung und die Sperrung der Bankkonten lösen Massenproteste aus. Die ökonomische Krise wird zu einer umfassenden Krise der Repräsentation: Die Menschen verlieren das Vertrauen in die Politik als demokratische Kraft, in das Geld als verläßlichen Repräsentanten von Wert, die Massenmedien und ihre Art die Realität abzubilden. Argentinien, einst voller Stolz der europäischste Staat Südamerikas, ein Ort der Möglichkeiten und des Wohlstandes, wird quasi über Nacht zu einem Dritte-Welt-Land.Parallel zur internationalen Isolation des Landes entwickelt die lokale Filmindustrie einen quantitativen und kreativen Boom, der weltweit Beachtung findet. Er sucht bis heute seinesgleichen. Eine neue Generation von FilmemacherInnen entwickelt eine genuine Filmsprache, der es gelingt, die radikale Transformation der Gesellschaft zu spiegeln und schöpferisch zu begleiten.

Informelle Produktionsweise und knappe Budgets.

Gerade die Argentinische Filmindustrie ist durch die Wirtschaftskrise in ihrem Mark betroffen. Kosten für Importprodukte wie Filmmaterial verdreifachen sich durch die Abwertung des Peso. Eine Filmförderung existiert kaum noch. Trotz der herrschenden Knappheit, entwickeln sich inspirierende Produktionsstrategien. Gearbeitet wird mit kleinsten Budgets, über lange Zeiträume, buchstäblich im Wohnzimmer der Großmutter, in geöffneten Bars, auf Straßen mit Publikumsverkehr, unterstützt durch Freunde und Familienmitglieder. Viele Filmschaffende produzieren selbst und übernehmen die Rolle von ProducerInnen, Ka- mera – und Schnittleuten für ihre Kolleginnen und Kollegen. Eine offene und informelle Struktur ermöglicht nicht nur größere künstlerische Freiräume sondern führt auch zur Aufweichung fixierter Hierarchien der Filmproduktion. Geschlechtergrenzen werden durchbrochen und standardisierte Formeln des Filmemachens überholt.

Präsentation und Re-präsentation.

Die finanziellen Beschränkungen bestärken die Motivation, etablierte Formen der Darstellung von Realität im Kino zu hinterfragen. Sie erzwingen die Reduktion auf das Notwendige. So verweigern sich die Filme sowohl dem etablierten Symbolismus des durch Hollywood geprägten Konsumkinos als auch didaktischen, politischen Botschaften. Auf seine Art beginnt das Neue Argentinische Kino von Null an. Es widmet sich hochgradig subjektiven Erfahrungswelten, erforscht unterschiedlichste Spielarten des Kleinen, Alltäglichen, Prekären. Die physischen Realitäten des unmittelbaren, krisenbelasteten Umfeldes prägen sich in Form von Drehort, Charakteren, Alltagssprache, Handlung und Zeit maßgeblich in die filmische Arbeit. Dabei verschmelzen die formalen und erzählerischen Formen dokumentarischer und fiktiver Filmarbeiten. Sie stellen die Grenzen von Realität und Fiktion in Frage. Die Filme interagieren auf herausragende Art und Weise mit der Materialität des Hier und Jetzt.


Arbeit, Körper und Zirkulation.

Im Zentrum des Nuevo Cines steht oft das Verhältnis von ökonomischem System, sozialen und intimen Beziehungen. Die 90er Jahre in Argentinien sind eine Zeit des künstlichen Reichtums. Dieser beruht zum ei- nen auf der Peso-Dollar-Parität, zum anderen auf einer kurzfristigen, nur an Profit oriientierten liberalen Wirtschaftspolitik. Die Blase zerplatzt mit dem Crash 2001.
In seinem Film SILVIA PRIETO (1998) zeigt 
Martin Rejtman humorvoll die Sorglosigkeit der 90er Jahre. Totale Austauschbarkeit und scheinbarer Überfluss beginnen jede Beziehung zu zer- und sogar zu ersetzen. Jobs und Partner werden mit der glei- chen Leichtigkeit getauscht, wie eine Jacke oder die Proben des brandneuen Amerikanischen Waschmittels BRITE.

In Pablo Trapero’s MUNDO GRUÁ/ KRAN WELT (1999) wird diese Leichtigkeit durch drohende Arbeitslosigkeit und die Entwertung der Arbeit abgelöst. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und große Konkurrenz machen Arbeit immer knapper. Der alternde Ex-Musiker Ruló ist zu fett für die Arbeit als Kranfahrer. Auf der Suche nach einem Job ist er gezwungen Buenos Aires, Freunde und Familie zu verlassen, um unter widrigsten Bedingungen in der argentinischen Provinz zu arbeiten. Über drei Jahre gedreht, gespielt vom argentinischen Rockmusiker Luis Margani verbindet der Film biografische, dokumentarische und fiktive Elemente in reduzierten schwarz-weiß Bildern.

Erschütterung der Identität.

Ohne jeden staatlichen Schutz verlieren Tausende, durch die Abwertung der Landeswährung während der Krise, mit ihren Sparguthaben auch jede Zukunftsperspektive. CAMA ADENTRO/ LIVE IN MAID (2004) von Jorge Gaggero erzählt den Abstieg der Seniora Beba, die verzweifelt den Schein eines ge- hobenen Lebensstandards zu erhalten sucht. Ihre einzige Vertraute ist ihr Dienstmädchen Dora. Auch als Beba sie nicht mehr bezahlen kann und ihr nobles Apartment verlassen muss, bleibt Dora ihr verbunden. Die Filmcharaktere reflektieren die gesellschaftlichen Positionen der Darstellerinnen: Der argentinische Filmstar Norma Aleandro mimt die Beba, während Dora durch Norma Argentina, vor dieser Rolle als Dienstmädchen tätig, verkörpert wird.

Auch auf einem nationalen Level erlebt Argentinien eine Verkehrung der Verhältnisse. Das einstige Land der ungeahnten Möglichkeiten, wird zu einem Ort, den man verlassen möchte oder muss. In Daniel Burmans ABRAZO PARTIDO/ LETZTE UMARMUNG (2004) träumt der jüdisch- argentinische Ariel von einem polnischen Pass und Europa, um endlich den Dessous-Laden der Mutter ver- lassen zu können. Beide Filme erforschen inwiefern eine Krise, wirtschaftlich oder familiär, dazu zwingt soziale Rollenverteilungen und etablierte Beziehungsmuster zu hinterfragen.

Gedreht auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise 2001 treibt TODO JUNTOS/ ALLES ZUSAMMEN (2002) von Federico León dieses Unterfangen auf die Spitze. Der Film zeigt nicht ohne Humor die Unfähigkeit eines jungen Paares sich zu trennen, bis zur absurdesten Demütigung. Darsteller sind der Regisseur und seine Freundin selbst, die sich damals tatsächlich trennten.


Intimität und Degeneration.

Zunehmende Arbeitslosigkeit, Abstiegsangst und Kriminalität, begleitet durch eine Medienkampagne, welche die allgemeine „Unsicherheit“ beklagt, führen zu wachsendender Segregation der argentinischen Gesellschaft seit Mitte der 90er Jahre. Reiche Familien ziehen sich in geschlossene Wohnanlagen zurück. Es gibt immer weniger Mobilität zwischen den Klassen.

Filme wie LA CIÉNAGA/ DER SUMPF (2001) von Lucrecia Martel oder LOS MUERTOS/ DIE TOTEN (2004) von Lisandro Alonso behandeln Lebenswelten wie geschlossene Systeme. Martel zeigt die Verwahrlosung einer wohlhabenden Familie, die den Bedrohungen der Außenwelt in ihrem Sommerhaus zu entfliehen sucht.

Die größte Gefahr für die Gemeinschaft liegt allerdings in der eigenen, inneren Verunreinigung und der Abwesenheit eines ausgleichenden Äußeren. LOS MUERTOS folgt der labyrinthischen Reise des Outsiders Vargas, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Wie alle Filme Lisandro Alonsos portraitiert DIE TOTEN einen marginalen Lebens- und Arbeitskontext der argentinischen Gesellschaft, der die Welten der Ökonomie und des Konsums nur selten berührt.

Abwesenheit des Staates und Verbrechen.

Im urbanen Western UN OSO ROJO – A RED BEAR (2002) formuliert sich die Rolle des Staates über seine Abwesenheit. Als Bär während der Wirtschaftskrise 2001 aus dem Gefängnis entlassen wird, betritt er ein Buenos Aires in dem Selbstjustiz und Kriminalität das eigene Überleben sichern. Weil niemand sonst es übernimmt, rettet er durch einen Raubüberfall seine Frau und ihren neuen Mann vor dem wirtschaftlichen Ruin. Alles Geld sei schließlich gestohlen, so Bär. Regie führte Adriano Caetano, dessen Debüt PIZZA, BIRRA, FASO/ PIZZA, BIER, ZIGARETTEN das Nuevo Cine Argentino erst begründete.

Willkür, Langeweile und Abhängigkeit bestimmen EL CUSTODIO/DER LEIBWÄCHTER von Rodrigo Moreno (2007). Erzählt wird aus der Perspektive des Bodyguards Rubén Er ist Leibwächter eines voll- kommen unwichtigen Ministers, der absolut nicht in Gefahr ist. Am Ende des Filmes steht dann ein unerwarteter Befreiungsschlag.

Die Unmöglichkeit und Unzulänglichkeit filmischer Re-präsentation von Wirklichkeit und ihre Institutionalisierung durch den Staat steht im Zentrum von LOS RUBIOS/ DIE BLONDEN (2003) von Albertina Carrí. Carrí geht weit zurück in der argentinischen Geschichte. Der Film folgt den Spuren ihrer Eltern, zwei von 30.000 „Verschwundenen“ während der Militärdiktatur von 1976 – 1983. Sie wurden entführt und er- mordet durch den Staat. Durch einen sehr subjektiven Ansatz und die irritierende Verschmelzung doku- mentarischer und fiktionaler Elemente untersucht der Film die Konstitution und Wirkung von Erinnerung und Wirklichkeitskonzeption als auch deren Vereinnahmung.


Andere Welten.

Neuere Arbeiten argentinischer FilmemacherInnen müssen sich oft mit dem Vorwurf auseinandersetzen an Intensität verloren zu haben. Der argentinische Filmkritiker und Theoretiker Gonzalo Aguilar hingegen betont, dass die Leichtigkeit des aktuellen Schaffens ohne die Bemühen des Neuen Argentinischen Kinos nicht möglich gewesen wäre. Heute, so Gonzalo Aguilar, scheinen die unterschiedlichsten Lebensrealitäten in Argentinien einander wieder zu berühren, – im Alltag, in der Arbeit und Kunst, der Familie und Öffentlichkeit. Neue Verbindungen sind geknüpft worden, eigene Ideen der Gemeinschaft entstanden und verwirklicht.

In SUEDEN (2008) beispielsweise betritt der Komponist und Dirigent Mauricio Kagel den Filmraum. Kagel kommt nach 35 Jahren zum ersten Mal in seine Geburtsstadt Buenos Aires zurück, um hier mit lokalen Musikern Beeindruckendes zu leisten. In LOS LABIOS/ DIE LIPPEN (2010), eine Zusam- menarbeit von Ivan Fund und Santiago Loza, verlassen drei Frauen die große Metropole, um in der Provinz soziale Arbeit zu leisten und die Gesundheitsvorsorge der ländlichen Bevölkerung sicher zu stellen. Doch anstatt Milieus und Gegensätze zu betonen, verzichtet DIE LIPPEN vollkommen darauf und wird zu einer Begegnung verschiedener Realitäten in Respekt und Offenheit.

Ein absolutes Meisterwerk schafft schließlich Marian Llinas mit HISTORIAS EXTRAORDINARIAS/ AU- SSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN (2008). Diese spannende und unkonventionelle Kollaboration von Film- und Theaterschaffenden bringt Ästhetik und Strategien des Neuen Argentinischen Kinos auf den Höhepunkt. Das ist Filmkunst vollkommen abseits der bloßen Reproduktion etablierter Formen, Narrationen und Wirklichkeitskonzepte. Das ist das Kino der Zukunft.

Die erste und englische Fassung des Textes entstand für die Cinemathek in Oslo. 2011 entwickelten Veronika S. Bökelmann und ich hier in Kooperation dem Norwegischen Filminstitut und der Argentinischen Botschaft (Oslo) ein Filmprogramm und eine Vortragsreihe. Bis 2012 waren wir damit unter anderem an der Kunsthochschule Oslo, der HFF München, der Filmakademie Baden-Württemberg oder in der Vierten Welt (Berlin) zu Gast. 
Da die Filme des Neuen Argentinischen Kinos brennend aktuell bleiben, möchte ich hier die deutsche Fassung zur Verfügung stellen. Einige der Filme sind in unseren Breitengraden nicht erhältlich. Ich verleihe sie deshalb gern kostenfrei für private Vorführungen. Für weitere Fragen und Vorträge stehen wir gern zur Verfügung.

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