25. Februar 2016

In den Ruinen einer alten Angst.

© VOLUMEN Express and friends 2009
Alle Fassaden fielen, innen und außen.
Dann ächzten die Systeme.
Das war lange, nachdem der Zusammenhang ihrer Entstehung in Vergessenheit geraten war, der kritische Zweifel erfolgreich in die Struktur integriert. Alles Bedeutende schien schon getan, alles Wichtige bereits gesagt. Das Bedürfnis nach Sicherheit hatte nicht nur unsere Hierarchien gefestigt. Auch unsere Abhängigkeiten wurden unmerklich durch den selbst verursachten und gesteuerten Krisenzustand stabilisiert, akzeptiert durch Widersacher wie Befürworter in rhythmischer gemeinsamer Wiederholung. Die rituellen Bahnen von Politik, Wirtschaft und Medien befreiten uns alltäglich von der Last des gegensetzlichen Seins . Sie führten uns nach einer von uns gemachten Vorschrift. Einige nach oben, andere in den Untergang. Erst die konstruierte Dualität von Verstand und Gefühl, Scheitern und Erfolg brachte die notwendige regulierende Spannung. 
Ausnahmezustände gestatteten das Plündern. Ausnahmezustände schärften die Instinkte. Ausnahmezustände erzeugten Gefühle in einer Welt der persönlichen Abwesenheit. So wurde die langwierige und mühsame Sinnsuche um die eigene Existenz in ein kurzweiliges evolutionäres Drama umgeschrieben. Der ewige Angriff bedürfte permanenter Verteidigung. Die Katastrophe wurde zum Lebensumstand und schien umso selbstverständlicher, je länger sie andauerte. Die Sinne sind träge. Der Verstand ist es auch. Und mit massiver Inbrunst verhindert die Wahrnehmung schließlich durch Spaltung und Verdrängung jedes Bewusstsein, um den Schmerz der Veränderung zu vermeiden. Doch einige konnten die Verwahrlosung spüren. Diese wenigen sprachen ununterbrochen darüber. Ihre Worte waren nicht laut, aber aufdringlich.

Es gelang uns, diese Unruhigen für schwach zu erklären.
Das war lediglieh eine Frage der überlegenden Funktion, eine Frage der Institution. Der Wille ist schnell gebrochen, denn die Angst vor der Angst macht panisch. Irgendwann letztlich gibt auch der rebellierende Körper nach. Wir verstanden es schließlich sogar, unsere Depressionen und Störungen systematisch zu erzeugen. Die Krankheit besorgte das Selbst und entsorgte es schließlich. Der daraus entstehende Bedarf und die Nachfrage belebten nachhaltig den Markt. Im individuellen Unwohlsein begründete sich außerdem ein zwingendes System der Gesellschaft. Unsere Minderwertigkeiten stabilisierten Eliten, der Sozialneid manifestierte Positionen. Jeder hatte seinen festen Platz. Es war wesentlich leichter, das zu erhalten, woran wir uns gewöhnt hatten, und sich vorzumachen, man gehöre nicht dazu.
Die vernichtende Fiktion hatte wieder Hochkonjunktur.

Fiktionen einer rettenden Ordnung versprachen uns seit jeher Gewissheit, auch wenn der totale Krieg sie anfangs scheitern ließ. Damals hatte unsere Unvollkommenheit uns sehr uneffektiv gemacht.
Wir spielten riskante Spiele, gelockt durch die Aussicht auf hohe Gewinne. Das band die Massen.
Nur wenige hielten sich aus und suchten nach selbstbestimmter Handhabung. Ihre Reflektionen wirkten störend auf uns alle. Sie schienen den Zweifel leben zu können. Sie nutzten ihn, indem sie von sich sprachen, ohne zu behaupten. Sie erfanden sich Tag für Tag neu, ohne dabei erloren zu gehen. Sie waren überzeugt von dem, was sie dachten, und gleichzeitig in der Lage, alles zu verändern, ohne ihr Gesicht zu verlieren.
Gefährliche Freiheiten drohten sich zu entfalten. Die Autarkie und Anarchie ihres Treibens schienen unsere dirigierenden Hegemonien empfindlich zu verletzen. Die drohende Vielfalt verunsicherte tief. Sie bedeuteten Angriff auf die sorgfältig gepfelgten Konventionen des Alltagslebens.
Eigenwillige Ästhetiken stellen die Syntax der Macht in Frage.
Doch das dauerte nicht an. Es bedurfte nur einer fatalen Krise, die wachsende Komplexität zu bannen. Unser infantiler Größenwahn produzierte die Wendung von selbst. Materielle Schieflagen bieten stets den passenden Anlass, denn die Angst vor dem Verlust weckt das Bedürfnis nach extremen Eingriffen.
Die Angst der  einen beeindruckt immer das Dasein der anderen. Sie merzt zügig alles Irritierende aus, erträgt man sie nicht in sich. So entfernten wir kompliziert Gewachsenes in uns, um Übersichtlichkeit zu schaffen, die vielen dienlich war. Wir ignorierten schlicht den individuellen Zusammenhang. Ich war nichts. Du war Schuld. Er wurde es. Zerrissenheit fand schließlich ihre Lösung im greifbaren Entwurf des allgemeinen Feindes. Zur besseren Erkennbarkeit ließen wir Kostüme fertigen, erschufen den perfekten Raum für den perfekten Menschen. Die Sehnsucht danach, das Gute in sich attestiert zu wissen, wurde erfüllt. Wer folgte, wurde selbstverständlich makellos. Die menschlichen Marionetten marschierten dankbar, überzeugt von ihrer inneren und äußeren Größe. Wir hielten uns gegenseitig. Eine perfekte Inszenierung. Dünn waren die Fäden, sodass wir sie kaum noch wahrnehmen mussten. Die Sehnsucht nach einer vollkommenen Wahrheit minimierte das Risiko der eigenen Existenz. Das Auslöschen jeglicher Gewissenhaftigkeit machte der Erhabenheit Platz. Er wurde es und sein Erleben ersetzte unsere Anwesenheit. Die gekonnte Selbstverleugnung befriedigte unser süchtiges Sehnen nach alleiniger Bedeutsamkeit. Der überdimensionale Wahn allerdings konnte durch Sorgfalt nicht kompensiert werden.

Die Inszenierung eskalierte. (...)

Der vollständige Text erschien 2007 im Sammelband utopia 07 beim Primero Verlag München. Ich habe ihn damals als Versuch verstanden meine Wahrnehmungen zur kollektiven Psyche, Faschismus und strukturellen Gewalt in der unserer Gesellschaft zu verarbeiten. In der Gegenwart sind diese Affirmationen zu gefährlichen Realitäten geworden, denen ich in meiner Arbeit zu begegnen suche.