25. Mai 2015

Bilder, die wir haben. Bilder, die wir brauchen: Über die Grenzen der Repräsentation im Dokumentarfilm

Im Rahmen von united nations revisited "Künstlerische Interventionen im politischen Raum" habe ich einen Vortrag über die Grenzen der Repräsentation in den Dokumentarfilmen Kinshasa Symphony und Congo in Four Acts gehalten. Hier findet sich ein ausführlicher Beitrag dazu.

© Congo in Four Acts, Dieudo Hamadi, Divita Wa Lusala und Kiripi Katembo Siku // Suka Productions 2010




„Das dokumentarische Bild repräsentiert vielleicht.
Es vergegenwärtigt jedoch auf jeden Fall seinen eigenen Kontext: Es bringt ihn zum Ausdruck.“
, schreibt die Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl in Die Farbe der Wahrheit (1). Damit formuliert sie das zentrale Thema dokumentarisch-filmischen Schaffens und seiner politischen Dimension überhaupt. Vergegenwärtigen wir kurz: Repräsentation bedeutet zum einen in der künstlerischen und philosophischen Praxis die „Darstellung“ oder „Vorstellung“ von etwas. In der Politik wird Repräsentation als „Sprechen für“, im „Namen von“ oder „in Vertretung von“ verstanden.

Gerade in der dokumentarfilmischen Praxis aus und über Afrika fallen Aspekte einer politischen und künstlerischen Repräsentation zusammen. Diese strukturellen, formalen und inhaltlichen Verfahren der politischen wie künstlerischen Repräsentation konfrontieren uns jedoch nicht mit den Dingen der dargestellten Welt, sondern mit bestimmten Begriffen, Überlegungen und Modellen dazu. Sie entwerfen die Welt als Bild ihrer Wahrheiten. Weil Bilder wie Wahrheiten nach bestimmten Konventionen der politischen wie kulturellen Macht erzeugt werden, müssen diese stets aufs Neue in Bezug auf ihre Rechtmäßigkeit hinterfragt werden. Filme wie Kinshasa Symphony und Congo in Four Acts bieten den passenden Anlass.

Kinshasa Symphony von Claus Wischmann und Martin Baer wurde unter Schirmherrschaft der deutschen UNESCO Kommission e.V. mit großem finanziellen Aufwand als Kinofilm in Co-Produktion des RBB und WDR im Rahmen der ARD realisiert. Der Film zeigt die Arbeit des einzigen Symphonieorchesters in Zentralafrika, des Orchesters Kimbanguiste.
Im Zentrum des Filmes stehen die Proben für Beethovens 9. Symphonie für das erste große öffentliche Konzert des Orchesters anlässlich des Unabhängigkeitstages. Der Film zeigt die Musiker*innen während der Konzertproben und begleitet neun Personen durch ihr Alltagsleben. Darüber hinaus inszeniert er diese Musiker*innen mit ihren Instrumenten in öffentlichen Räumen der Stadt Kinshasa. Kinshasa Symphony wurde auf Festivals, im Kino und im deutschen Fernsehen gezeigt, gewann diverse Preise und wurde in der Presse vielfach gelobt. Der Dokumentarfilm ist als DVD im Handel erhältlich.

In Congo in Four Acts geben die kongolesischen Filmemacher Dieudo Hamadi, Divita Wa Lusala, Patrick Ken Kalala und Kiripi Katembo Siku in vier voneinander unabhängigen Episoden Einblick in das Alltagsleben des Landes. Sie zeigen Frauen auf einer Entbindungsstation (Ladies in Waiting), die Lebensverhältnisse der Hauptstadt Kinshasa (Symphony Kinshasa), die Ermittlungsarbeit von Polizeibeamtinnen im Kontext alltäglicher, sexualisierter Gewalt gegen Frauen (Zero Tolerance) und die Bedingungen der Arbeit in den Steinwüsten der Minenregion Kipushi (After the Mine). Alle Episoden wurden mit großer Eigeninitiative, gefördert u. a. durch die Cooperation Britannique, Media for Democracy and Accountability und das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam (IDFA) realisiert. Congo in Four Acts ist meist mit Kinshasa Symphony auf Festivals gelaufen, allerdings nicht als DVD erhältlich und wurde im deutschen Fernsehen nur in Ausschnitten gezeigt.

Die öffentliche Wahrnehmung der Filme lässt sich auf folgende Kommentare des Journalisten Dominic Johnson zuspitzen:
„Gerade weil das alles unkommentiert bleibt, wird schlagartig das kongolesische Elend deutlich, die Niedertracht eines Alltags, in dem kaputte und mittellose Menschen sich damit aufreiben, um Brosamen vom Tisch eines reichen Landes zu streiten.“, sagt er zu Congo in Four Acts.  Kinshasa Symphony „… ist dazu die unverzichtbare, weil aus dem Elend hinausführende Ergänzung. (...) Die Musik ermöglicht das, was Kongolesen ansonsten verwehrt ist: Anschluss finden; mitspielen, im wahrsten Sinne des Wortes."

Beide Kommentare treffen die Oberfläche der Filme sehr gut. Aber wie auch die Filme selbst, werfen sie bei tieferer Betrachtung wesentliche Fragen in Bezug auf die Rechtmäßigkeit filmischer Repräsentation im Sinne von „Darstellung oder Vorstellung von“ und „Sprechen für“ oder „im Namen von“ auf: Welche Grenzen hat Repräsentation im Kontext westlich geprägter hegemonialer Diskurse und Kulturpraktiken wie sie auch im Rahmen der UNESCO wirksam werden? Wann ist Repräsentation gehaltvoll, wann gewaltsam? Welche Alternativen gibt es? 

Antworten auf diese Fragen werden nie vollkommen sein, aber einige Überlegungen helfen dabei, ihnen näher zu kommen.


© Kinshasa Symphony by Claus Wischmann und Martin Baer // sounding images 2010

 
Dokumentarischer Realismus oder purer Konstruktivismus?

Kinshasa Symphony und Congo in Four Acts berühren das Grundthema dokumentarischen Filmschaffens: das Spannungsverhältnis von Realismus und Konstruktivismus. Während der dokumentarische Realismus Bilder als Vermittler der puren Dinge wie sie sind begreift, sieht der Konstruktivismus jedes Bild als komplexe soziale, politische, kulturelle Konstruktion. Wie der Begriff der Wahrheit selbst, ergeben sich konstruktivistisch betrachtet, sämtliche Formen der Abbildung von Realität aus der herrschenden Politik der Wahrheit.

Aus der Perspektive des Realismus stellt
Kinshasa Symphony eine evidente und objektive Wirklichkeit dar: die Realität der Stadt Kinshasa und ihrer Menschen wie sie ist. Aus konstruktivistischer Sicht ist ein dokumentarischer Film niemals objektiv, sondern immer Resultat eines hochkodifizierten Systems, der jeweils geltenden Politik der Wahrheit - der Repräsentationspolitik. Das dokumentarische Bild ist damit ein Machtinstrument der herrschenden Hegemonien. Sein zentrales Anliegen ist es, die geltenden Konventionen der Wahrheit oder Macht zu erhalten. Das Bild repräsentiert die Dinge, wie sie sind nur eventuell, auf jeden Fall aber bringt es die Bedingungen seiner Entstehung zum Ausdruck.

Konstruktivistisch betrachtet zeigt Kinshasa Symphony, als Resultat deutscher, öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten sowie der kulturpolitischen UNESCO Kommission e.V., was dargestellt und gesehen werden darf, soll und kann, innerhalb der Interessen, Meinungen und Konventionen dieser Bezugsysteme. Sowohl Produktions- als auch Distributions-und Wahrnehmungssysteme sind durch die Gewohnheiten dieses Kontextes maßgeblich bestimmt.

Es wäre zu einfach, lediglich in diesen Extremen zu denken. Es ist aber ebenfalls naiv, die Spannung zwischen den Extremen zu ignorieren. Das dokumentarische Bild ist eine überaus anziehenden zweifelhafte Gestalt, die notwendiger Weise hinterfragt werden muss und erst nach Analyse und Dialog Erkenntnis herbeiführen kann.

 

Die Zeug*in oder Kann die/der Subalterne sprechen?(2)

Es sei oft nicht möglich zwischen der Welt und ihren Bildern, dem Ereignis und seinem Abbild, dem Beobachter und dem Beobachteten zu unterscheiden, meint nicht nur Hito Steyerl in Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarisch-filmische Repräsentation als „Darstellung und Vorstellung von“, „Sprechen für“ oder „im Namen von“ ist immer eingespannt in die wirkenden Politiken der Wahrheit und Macht. 

Bestimmte Bevölkerungsgruppen seien mitunter sogar gänzlich, also auch im Dokumentarfilm, von der gesellschaftlichen Artikulation ausgeschlossen, betont die feministische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak. Hito Steyerl spricht in diesem Fall von "epistemischer Gewalt" und zwar immer dann, wenn die herrschenden Wertesysteme die Werte der sprechenden Personen nicht repräsentieren und deshalb jedes Verständnis unmöglich wird. Das sei häufig in sowohl patriarchal als auch kolonial geprägten Strukturen der Fall, erläutert Spivak in ihrem Text "Kann die Subalterne sprechen."(3)

Jean-Luc Godard beschreibt dieses Problem in Bezug auf die Zeugen(4). Er meint damit die Menschen, die im Film zu sprechen scheinen, Zeugnis ablegen, die aber nicht gehört werden (können). Godard meint, Menschen reden zu lassen, sie an der Produktion eines Filmes partizipieren zu lassen, heiße nicht unbedingt, sie zu Wort kommen zu lassen. Das trifft insbesondere auf Menschen zu, die in der Hegemonie, Hierarchie am Rande stehen (Subalterne). Ein Arbeiter oder eine Arbeiterin zum Beispiel, die für sich selbst sprechen, werden in den Medien oft als leicht minderbemittelte, eher bemitleidenswerte Geschöpfe wahrgenommen. Sie würden oft zu Objekten eines voyeuristischen Blickes, der an „Echtheit“ interessiert ist, nicht aber an Veränderung, betont auch Hito Steyerl. Die filmisch-dokumentarische Repräsentation, als Darstellung konkreter Erfahrung, schließt die hierarchische, (ab)wertende Arbeitsteilung ein: zwischen denen, die etwas erleben und denen, die dieses Erlebnis verstehen und interpretieren können. 

Unsere Medienkultur ist außerdem nachhaltig durch das Modell der Intersubjektivität, wie Hegel es formuliert, geprägt. Das heißt: Ein Anderes, welches negiert wird, ist die Voraussetzung für die Ausbildung der eigenen Identität. Die Produktion von objektivierten oder subjektivierten Anderen durchdringt all unsere Lebensbereiche und ist sogar zu einer ökonomischen Macht geworden. Auch das Konzept der Anerkennung der Anderen eingebettet in die Idee der Differenz. Das Andere muss als Teil des eigenen Selbst, immer wieder geschaffen und am Leben erhalten werden, um die eigene Identität im Gewohnten zu halten und nicht zu verlieren.(5)

Das Interview als Zeugnis, als Dokument, stellt die Welt wie wir sie sehen, in ihren sozialen und politischen Sinn allerdings erst her. Ihm gänzlich und damit sich selbst permanent zu misstrauen würde in den Wahnsinn führen. Die Herausforderung liegt also wieder in der Fähigkeit, die Spannung von Text und Subtext, Realität und Konstrukt, Bild und Kontext wahrnehmen und analysieren zu können. Es ist notwendig sich in Bezug auf Filme wie Kinshasa Symphony und Congo in Four Acts zu fragen: Was zeigen sie eventuell? Sehen wir tatsächlich, was sie sind oder lediglich, was wir benötigen, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen und die eigene Identität im Gewohnten zu halten?
 © Kinshasa Symphony by Claus Wischmann und Martin Baer // sounding images 2010

Repräsentation als „Dar- oder Vorstellung von“ und „Sprechen für“

In beiden Filmen fallen politische und künstlerisch-kulturelle Repräsentationspraxis zusammen. In beiden Fällen ist Repräsentation an ökonomische und politische Bedingungen globaler Verwertungsökonomien, unter anderem auch die Sensations-und Affirmationskultur des Fernsehens, geknüpft. Dabei sind Wissen, Fähigkeit zur Sichtbarmachung und Macht oft untrennbar miteinander verbunden.
„Die meisten Filme in der Demokratischen Republik Kongo werden von ausländischen Filmemachern und Produzenten gemacht. Sie kommen für eine kurze Zeit in unser Land, machen Momentaufnahmen unserer Gesellschaft (...)
Wir porträtieren gewöhnliche Leute, die um ihre Existenz kämpfen. Wie kommt man in einer Gesellschaft mit so großen Problemen zurecht? Wie kann man in diesem Chaos überleben?“, schildern die Regisseur*innenvon Congo in Four Acts die Situation und ihre Motivation diesen Film zu machen.
 
Congo in Four Acts ist eine der wenigen Arbeiten, die von einer jungen Generation lokaler, kongolesischer Filmemacher, vor Ort realisiert werden konnte und internationale Beachtung findet. Die vier kurzen Episoden zeigen Aspekte persönlicher Alltagswelten aus lokaler Perspektive, in einer Ästhetik und Narration, die den Bedingungen der Filmproduktion mit einfachen Mitteln innerhalb beschränkter Infrastrukturen entspricht: Ladies in Waiting und Zero Tolerance, verzichten gänzlich auf Interviewsituationen und beobachten im Stile des Cinéma vérité. Symphony Kinshasa und After the Mine sind durchdrungen von unterschiedlichen dokumentarisch-filmischen Formen und Erzählweisen: After the Mine zum Beispiel verbindet beobachtende Kamera mit statischen Fotografien und kurzen Interviewsequenzen.

Congo in Four Acts spricht damit durch Visualität, Narration und Sujet eventuell für einen Teil der Bevölkerung Kinshasas: Direkt, durch Interviews mit den Menschen und die Beobachtung ihrer alltäglichen Lebenswelten.
Indirekt auch für die jungen Regisseur*innen, die über ihre Suche nach dokumentarfilmischer Form und Erzählweise ihre eigene Haltung suchen und formulieren.
Der Film an sich repräsentiert kongolesisches Filmschaffen an sich.
Die Produktion und Distribution des Filmes ist maßgeblich durch internationale Geldgeber, Festivalkurator*innen, Verleiher*innen und Journalist*innen bestimmt, deren Persönlichkeiten und Auswahlentscheidungen in meist westlich-geprägte Kulturräume, Praktiken und Perspektiven eingebunden und damit auch durch sie geprägt sind. Damit repräsentiert der Film ebens eine bestimme Logik der Filmförderung und Produktion und die mit ihr einhergehenden Gestaltungsprinzipien und Erzählweisen.

Kinshasa Symphony bettet visuelle und narrative Elemente in eine ordnende Struktur. Den erzählerischen Rahmen bilden die Orchesterproben, die in das große Finale, das öffentliche Konzert am Unabhängigkeitstag, münden. Der Dirigent und Direktor des Orchesters kommentiert die Probenarbeit. Innerhalb dieses Rahmens sind nach einem wiederkehrenden Muster neun Portraits ausgewählter Musiker*innen, deren Inszenierung mit ihren Instrumenten im Straßenbild sowie der Bau der Instrumente eingebettet. Kürzere und längere Montagesequenzen der Stadt verbinden die einzelnen Episoden. Ein Kontrast zwischen jenen Sequenzen, welche die Probenarbeit und solchen, die das Leben in der Stadt zeigen, wird deutlich. Viele Bilder, viele Schnitte und oft sehr kurze Einstellungen lassen das Treiben in der Stadt, verwirrender, chaotischer erscheinen. Die Stadt wir zu einem Labyrinth in dem die Ordnungen der Musik, des Orchesters und der Probenarbeit den Ausgang zu bieten scheinen. Auch Kinshasa Symphony verzichtet auf einen Audiokommentar.

Kinshasa Symphony ist unter der Schirmherrschaft der deutschen UNESCO Kommission e.V. im Rahmen des Mandates für „Schutz und Erhaltung des kulturellen Erbes, Bewahrung und Förderung der kulturellen Vielfalt und der Dialoge zwischen den Kulturen“ entstanden. Er hat damit wohl Sendungs-und Vermittlungscharakter für diese Institution.
Der Film wurde innerhalb der Konventionen eines deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks realisiert. Dieser ARD, als Anstalt des öffentlichen Rechts, verschreibt sich trotz privilegierter struktureller Bedingungen und gesetzlich verankertem Bildungsauftrag, mehr und mehr den Bedingungen eines Marktes, auf dem Intensität und Konsumierbarkeit von Bildern ausschlaggebend sind.

Da der Film im Rahmen des Bildungsauftrages aus Mitteln der deutschen Bevölkerung als große Kino- und Fernsehproduktion der ARD realisiert wurde, müsste er laut Sendeauftrag einen gesellschaftlich relevanten Blick auf die Lebensrealität der portraitierten Menschen repräsentieren. Verkörpert wird dieser Blick durch die Autoren Martin Baer und Claus Wischmann. Gleichzeitig vertreten die Autoren damit auch eine deutsche, mediale Öffentlichkeit und deren visuelle Praxis in der DR Kongo und Afrika. 

Kinshasa Symphony repräsentiert damit eventuell das Orchester Kimbanguiste sowie verschiedene Lebenswirklichkeiten in Kinshasa. Eventuell spricht er damit auch für die dargestellten Personen, die wiederum eventuell für größere Gruppen innerhalb der kongolesischen Gesellschaft stehen. Es ist davon auzugehen, dass Kinshasa Symphony sendend und vermittelnd an den Diskurs der großen Institutionen ARD und UNESCO anschließt, nach deren Entsprechungen der im Leben der dargestellten Personen freiwillig oder unfreiwillig sucht oder suchen muss.


Wann ist Repräsentationspolitik gewaltsam?

Ist Kinshasa Symphony also der Schritt in eine gemeinsame Zukunft gleichberechtigter sozio-kultureller Praxis und ihrer Erfolgsgeschichten? Oder ist der Film Teil einer Suche nach hegemonialen Rechtfertigungspraktiken, die über die gewaltsamen Entstehungsbedingungen einer gemeinsamen Kulturgeschichte hinwegsehen?

Ist Congo in Four Acts also die Bebilderung des kongolesischen Elends: "kaputter Menschen, die sich um Brosamen streiten"? Oder ist der Dokumentarfilm eine nuancierte und balancierte Auseinandersetzung mit den kongolesischen Lebensrealitäten, die Entwicklung einer eigenen Visualität und Stimme einheimischer Filmemacher und damit eine Form von Selbstermächtigung und Selbstbestimmung?

Wir leben in einer post-kolonialen, neo-kolonialen Welt, in der bestimmte kulturelle Praktiken, soziale Organisationsformen, ökonomische Verfahren, als anderen überlegen betrachtet werden. Ich spreche von einer Welt, in der wir alle durch eine gemeinsame, durch Gewalt bestimmte Kulturgeschichte verbunden sind. Oft wird diese Geschichte in der öffentlichen Vermittlung der Zusammenhänge von visueller Kultur, wirtschaftlichem Fortschritt und Kolonialismus auch von repräsentativen Organisationen wie dem Museum für Deutsche Geschichte marginalisiert oder vollkommen ausgeblendet. Die Arbeit der Gruppe Kolonialismus im Kasten? führt dieses Thema aus. Die Initiative hat einen kostenfreien Audio-Guide entwickelt, der darauf abzielt, dieses Schweigen zu thematisieren und die Wahrnehmungs-und Wissenslücken zu schließen.
© Congo in four Acts by Dieudo Hamadi, Divita Wa Lusala und Kiripi Katembo Siku // Suka Productions 2010

Allein die Tatsache das Congo in Four Acts als Bebilderung des Elends und Kinshasa Symphony als die Befreiung aus der Perspektivlosigkeit rezipiert werden, spiegelt Aspekte dieser Verstrickungen wider. Zentral ist dabei immer das Vokabular und die Rhetorik unserer Leistungsgesellschaft und die ihm eigene Marginalisierung alternativer Kultur-, Wirtschafts-und Organisationsformen: Die Darstellungen eines einfachen Lebens zum Beispiel, vermischen sich oft mit Attributen der Armut oder des Scheiterns im Hinblick auf unsere eigenen Produktions-und Erfolgssysteme.

Selbst wenn in Congo in Four Acts sowohl Regisseure als auch Protagonisten individuell Zeugnis ablegen, ist nicht gesichert, dass sie tatsächlich gehört, gesehen und verstanden werden können. Gehört werden im Kontext westlicher Repräsentationspraktiken oft nur die Menschen, die sich im Rahmen der wirkenden Repräsentationstechniken wahrnehmbar machen können und dann auch so verstanden werden, wie sie es beabsichtigt haben.  Denn es ist fraglich, inwiefern ein hiesiges Publikum das Gezeigte über die Konventionen des eigenen Blickes hinaus, überhaupt einordnen kann, ohne die Konventionen des dargestellten Kulturraumes, die genauen Produktionsbedingungen des Filmes und Motivationen der Regisseure zu kennen. Das wird durch die mangelnde Möglichkeit selbstbestimmt mit der kongolesischen kulturellen Praxis, anderen Formen der lokalen Filmkunst oder auch den kongolesischen Autor*innen selbst zu interagieren verstärkt.  

Die strukturelle Entmündigung der Protagonisten im Kontext interessensgeleiteter Politik und Kultur formuliert sich ganz direkt in der Präsentationssituation: Einer der Regisseure von Congo in Four Acts, der Konzertmeister Héritier aus Kinshasa Symphony sowie die Flötistin Nathalie, ganz groß auf dem Filmplakat zu sehen, dürfen zur BERLINALE zum Beispiel nicht einmal nach Deutschland einreisen.
Congo in Four Acts als subalterne Ausdrucksform bleibt damit einem kleinen Publikum vorbehalten. Verwertungs-und Präsentationsmöglichkeiten sind beschränkt: Eine DVD Auswertung gibt es nicht, Aufführungsmöglichkeiten sind auf ausgewählte Festivals beschränkt. 

Kinshasa Symphony versucht eine Annäherung an eine andere Wirklichkeit über eine schlichte Projektion und Identifikationsfläche, der uns vertrauten musikalischen Kultur. „Beethoven statt Bürgerkrieg“ titelt die Süddeutsche Zeitung griffig. Die Wiedererkennbarkeit „musikalischer Hochkultur“ spielt eine vordergründige Rolle und stellt eine Kulturpraxis in die Nähe zu Diskursen um Zivilisation, Fortschritt, Entwicklung und Zukunftsperspektive. Dabei werden fragwürdige Dichotomien wie die Stabilität, Ordnung und Wohlstand westlicher Kulturen versus Instabilität, Elend und Chaos afrikanischer Realitäten erhalten und in Szene gesetzt.

Der Film erzeugt Identifikation für sein Publikum durch komprimierte Botschaften und die Aussparung differenzierter Argumente einer kritischen Auseinandersetzung mit sowohl den repräsentierten Lebenswelten als auch der filmischen Form.
Er zeigt kulturelle Entwicklung durch Nachahmung, vermeintliche Hoffnung und Fortschritt, ohne das Bezugssystem wiederum in Frage zu stellen oder die Bedingungen seiner Konstruktion sichtbar zu machen. Die eigene Unfähigkeit oder Beschränkung des Blickes im Kontext etablierter Diskurse wird nicht berührt. Dabei spielen die Kimbanguisten - als eine durch die einheimische Gemeinschaft bestimmte christliche Kirche - eine sehr spezielle Rolle in der kongolesischen Kolonialgeschichte

Die filmische Erzeugung und Verwertung von Differenz als Motivations- und Anreizrahmen über plakative Gegensätze wie Scheitern und Erfolg, arm und reich, Ordnung und Chaos sind visuell tief in uns verankert. In den Modellen der westlichen Gesellschaften mündet Fähigkeit und Leistung in Erfolg. Wir leben im Hinblick auf das Ziel „einmal zu zeigen, was man kann“ und folgen dem Mythos „wonach das Individuum für sein Schicksal vollständig selbst verantwortlich ist“. Verbunden damit ist die Unfähigkeit, den Zusammenhang der eigenen gesellschaftlichen (Miss)Erfolgsgeschichte im Kontext einer gemeinsamen Weltgeschichte zu sehen. (6) 

Wolfgang Nierlein, Autor der Filmgazette merkt an: Kinshasa Symphony (…) kommt jedoch über die teils arrangierte, teils schwelgerische Bebilderung der Gegensätze kaum hinaus. In ausgesuchten Bildern beschwören die Regisseure immer wieder die Schönheit inmitten von Chaos und Dreck, bleiben dabei aber zu oft an der exotisch reizvollen Oberfläche haften. Das wirkt in den Wiederholungen mitunter ausgestellt, plakativ und redundant. So fehlt dem Film "Kinshasa Symphony" über weite Strecken eine soziale, politische und auch historische Vertiefung.“

Kinshasa Symphony erzeugt keine dokumentarische Distanz. Die Bilder werden nicht aus ihren historischen Verstrickungen gelöst, auch wenn die Autoren eventuell dieses Anliegen verfolgen und um positive Bilder bemüht sind. Einfach deshalb, weil die Verstrickungen nicht thematisiert werden.  Als Produktion der ARD und der UNESCO Kommission ist das auch nur bedingt von Interesse. Kinshasa Symphony repräsentiert die Idee der erfolgreichen kulturellen Zusammenarbeit mit dem Ziel ein möglichst großes Publikum zu erreichen, zu interessieren und zu begeistern. Der Film ist aber Teil eines Spannungsfeldes, das durch die Problematik des einseitigen Kulturtransfers geprägt ist. Die dokumentarische Bildsprache als „Vor- und Darstellung von“ und „ Sprechen im Namen von“ bleibt in autoritäre Herrschaftsverhältnisse eingespannt.

Bilder, die wir brauchen.
Wann ist Repräsentationspolitik gehaltvoll?

Kinshasa Symphony versucht eine positive und versöhnliche Annäherung an das beeindruckende Wirken des Orchesters über ordnende formale und narrative Konstruktionsmuster. Der Film bleibt ein positives Zeugnis zeitgenössischer afrikanischer Kultur, auch wenn Kontexte und Entstehungsbedingungen nicht ausreichend thematisiert oder hinterfragt werden. Er bringt damit den Wunsch einer positiven kulturpolitischen Fürsprache und Vertretung durch die UN und die deutsche UNESCO Kommission zum Ausdruck. Er transportiert das Projekt, die Idee, einer erfolgreichen kulturellen Zusammenarbeit, nach deren Spuren und Entsprechungen er vordergründig sucht, aus der Perspektive der Institution.  

Afrikanet.info Chefredakteur Simon Inou formuliert das so: „Der Film von Claus Wischmann und Martin Baer beglückt durch eine feinsinnige Abstimmung zwischen Bild,Text, Musik und Schnitt, die von einem neugierigen, mitdenkenden und einfühlsamen Blick geprägt ist. Der Film zeigt Kinshasa hier und jetzt, wie das Leben vor Ort gestaltet wird, jenseits von Jammernden und Hilfe um Bittenden, die wir aus Nachrichten und Werbung gewöhnt sind. Der Film ist ein seriöses Werk über die Popularisierung der klassischen Musik im afrikanischen Kontext. Ein Dokumentarfilm voller Leben, Freude und Gestaltungskraft in einer Umgebung voller Leiden und Perspektivlosigkeit.“

Die Episoden von Congo in Four Acts verweigern in minimalistischer Ästhetik, fragmentarisch, sorgfältig, ohne herauszustellen
im kleinen Alltäglichen beginnend, eine zusammenhängende Erzählung, das Arrangement eines großen, geschlossenen Ganzen. Die Filme verklären und idealisieren nicht: Ihre offene Form und Erzählweise dokumentiert den Entstehungsprozess einer eigenen, lokalen audiovisuellen Praxis. Die Arbeiten nähern sich an, ohne Identifikation, Betroffenheit durch Konstruktionen, z.B. Affirmation durch Montage oder Musik zu verstärken. Sie verzichten auf einen verbindenden, ordnenden Kommentar. Texttafeln auf schwarzem Grund leiten die filmischen Episoden ein.
Die rohe Montage der einzelnen Episoden, aber auch des ganzen Filmes thematisiert die fragile Beziehung zwischen Projektion, Sichtbarkeit und Wissen.
Congo in Four Acts durchbricht damit den Diskurs westlicher visueller Praktiken und Erzählweisen, in denen „Darstellung“ meist „Wissen“ bedeutet: Grenzen des Mediums, der eigenen Erfahrungen mit dem Medium werden erforscht und wahrnehmbar gemacht. Alle Episoden bezeugen die dringende Notwendigkeit eine eigene soziale und kulturelle Imagination im Kontext der erlebten Dissonanzen, Brüche, Krisen zu erzeugen.

Congo in Four Acts verweist inhaltlich und formal auf die Verfassung eines Landes und seiner Menschen nach Jahrzehnten des Krieges und die Folgen extraktivistischer Politik. Der Film steht formal für die Notwendigkeit einer lokalen, dokumentarischen Repräsentationspraxis als Mittel der Ermächtigung und Aneignung der eigenen Realität. Formal und inhaltlich engagiert er sich für die differenzierte Darstellung der Lebenswirklichkeiten unterschiedlicher Personen, aus der Perspektive einheimischer Filmemacher*innen. Die Welten, die er zeigt, sind aus unserer Perspektive extrem. Jedoch ist ihre Darstellung nicht auf den Affekt und die Sensation reduziert. Nuanciert, offen und verhalten nähern sich die Filme komplexen Situationen an. Congo in Four Acts betont das Recht und die Notwendigkeit selbstbestimmt Bilder, der eigenen Lebensrealitäten zu erzeugen. Auch als Voraussetzung dafür, das eigene Leben nach eigenen Maßgaben zu gestalten und zu verändern.

Gewaltfreie, gehaltvolle dokumentarfilmische Repräsentation ist jedoch nur dann möglich, wenn die Wahrheit als Produkt im Rahmen ihrer Entstehungsprozesse wahrnehmbar und reflektierbar wird. Das ist sowohl in Kinshasa Symphony und Congo in Four Acts  wie beschrieben nicht der Fall.


Bilder, die wir brauchen.

Zeigen, was noch gar nicht existiert.

Das dokumentarische Bild bleibt in beiden Filmen von politischen, ökonomischen und sozialen Konventionen bestimmt und in die Herrschaftsverhältnisse eingespannt. Es ist von Interessen durchdrungen und Instrument einer bestimmten Politik der Wahrheit. Dokumentarismus folgt der Logik der potestas, wenn er Zeichen zu einer Sprache organisiert, die erkennt, beschreibt, gliedert und ordnet.(7)

Anders in Bamako. Der Film wurde 2006 von Aberdarrahmane Sissako als Co-produktion zwischen Mali und Frankreich im Hinterhof des Hauses in dem der Regisseur aufwuchs realisiert. In einer inszenierten Gerichtsverhandlung klagen Vertreter der afrikanischen Zivilgesellschaft Institutionen wie den Internationalen Währungsfond und die Entwicklungspolitik der Weltbank als auch die politischen und ökonomischen Interessen aus denen sie hervorgegangen sind an. Die Verhandlung wird immer wieder durch das Alltagsleben unterbrochen.
Sissako mischt dokumentarische und fiktionale Elemente. Er arbeitet mit Fakten, Bildern, Mythen und Klischees, die er aus ihren Verwicklungen löst und zueinander neu in Beziehung setzt. Auch die Rolle der Medien und ihre Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion werden hinterfragt. Bamako zeigt so, was noch nicht ist und wie es entstehen könnte. Der Film montiert nachvollziehbar auf eine Weise, was auch vollkommen anders montiert werden könnte und macht sichtbar: Wie die Welt zum Bild geworden ist, kann das Bild kann zur Welt werden.

Der Film selbst ist eine Performance. Ein Ereignis, das Menschen und Kontexte über die Aktion verschiedener Subjekte anders als bisher zueinander in Beziehung setzt. Resultat ist ein verändertes Verhältnis von Material– und Zeichenhaftigkeit mit dem Ziel Erfahrung und Transformation möglich zu machen. Das Performative setzt eine Dynamik in Gang, die dazu führt, dichotomische, begriffliche Schemata als Ganzes zu destabilisieren. Neue Bedeutungen werden über die bloße Handlung erzeugt. (8)

Anders auch in Adopted. Was als sozial-evolutionäre Fiktion und ein Projekt der Künstlerin Gudrun Widlok beginnt, wird Realität: Ihre Initiative Adopted vermittelt familiär bindungslosen, erwachsenen Europäern Pateneltern in Afrika und Asien. Mit einem mobilen Büro ist Adopted Teil der Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin und anderswo. In einer westlichen Welt gehen Werte wie Geborgenheit, Zugehörigkeit und Zusammenhalt verloren. Adopted bringt deshalb Suchende mit Familien aus Kulturkreisen, die diese Werte pflegen, auf persönlicher und emotionaler Ebene zusammen. Großfamilien in Afrika erklären sich bereit, Patenschaften für Europäer zu übernehmen. Menschen in Europa, denen es materiell und beruflich gut geht, die aber durch ihren individuellen und freiheitsliebenden Lebenswandel kein Familienleben führen, können sich bewerben. Der Dokumentarfilm beobachtet die Familienzusammenführung in Ghana. Adopted hinterfragt Identität als körperliche und soziale Wirklichkeit und konstituiert sie sorgar in Aspekten, durch den performativen Akt der Familienzusammenführung im Film. Das bedeutet für den Zuschauer wird Wirklichkeit wird nicht gedeutet, sondern in ihren Auswirkungen erfahren oder erfahrbar gemacht.

Performative dokumentarisch-filmische Formate wie Bamako und Adopted können sich in eine Sprache der Dinge einschalten, anstatt sie in den Diskursen der Macht hineinzupressen. Performative Akte sind Handlungen, die genau das vollziehen, was sie bedeuten. Sie konstituieren eine (neue) Wirklichkeit. Verweisen Bilder auf das schöpferische Potential einer Situation, dann nutzen sie die Logik der potentia. In diesem Fall wird nicht beschrieben, sondern erschaffen und neue Kräfteverhältnisse und Energien erzeugt. Es geht weniger darum, die Welt abzubilden als vielmehr darum zu erkennen wie sie sein könnte, und dies zu realisieren.(9)

Quellen
(1) Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Hito Steyerl, Verlag Turia+Kant, Wien-Berlin, 2008, S. 15
(2) Der Titel ist inspiriert durch den Text Can the Subaltern speak?, von Gayatri Chakravorty Spivak, Turia + Kant, 2007 mit einem Kommentar von Hito Steyerl 
(3) Vgl. auch: Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.), UNRAST Verlag Münster, 2003
(4) Histoire(s) du Cinéma, Jean-Luc Godard, Gallimard/Gaumont, 1998, S. 86 ff.
(5) Vgl. auch: Spricht die Subalterne deutsch?
(6) Ebenda. 
(7) Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Hito Steyerl, Verlag Turia+Kant, Wien-Berlin, 2008, S. 125 ff.
(8)
(9) Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Hito Steyerl, Verlag Turia+Kant, Wien-Berlin, 2008, S. 125 ff.

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