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1. Oktober 2015

Jede Zeit steht im Zeichen der Wahrheitssuche

„Jede Zeit steht im Zeichen der Wahrheitssuche.
Und wie schrecklich diese Wahrheit auch sein mag, sie kann durchaus zur Gesundung der Nation beitragen.“ – Andrej Tarkowski

(oder ihrer Abschaffung/ Anm. d. R.)
 
© "Jede Zeit steht im Zeichen der Wahrheitssuche" Tanja Vietzke 2014





Gesellschaftliche Krisen forcieren die Entwicklung herausragender Filmwerke, eigenwilliger kurzer und langer filmischer Formen als Dokumente ihrer Zeit.
Arbeiten des italienischen Neorealismus, der französischen Nouvelle Vague, des Neuen Argentinischen Kinos aber auch der Neue Deutsche Film? zeugen davon. Sie stellen Begriffe der Macht und Wahrheit genauso wie etablierte Formen der Repräsentation von Wirklichkeit in Politik, Wirtschaft oder Medien in Frage. Ins Auge fällt dabei die Suche nach radikalen Methoden zur Beschreibung der eigenen Realität mit Mitteln, die vehement die Grenzen zwischen Realität und Fiktion hinterfragen, verschieben oder einfach ignorieren. 

Gerade in der Reibung mit den Spielarten des fiktiven und non-fiktionalen Films manifestiert sich für mich die urmenschliche Motivation, sich im Hier und Jetzt zu verankern. Gerade in Zeiten des Umbruchs, der Krise und Transformation ist diese Verankerung ein Weg des Überlebens, aber auch eine Form aus bloßen Möglichkeiten konkrete Wirklichkeiten entstehen zu lassen. Das filmische Werk besitzt dann enormes performatives Potential, wenn es ihm gelingt, sich in die Sprache der subjektiven und objektiven Dinge einzumischen. Es hat die Kraft Menschen und Kontexte derart in Beziehung zu setzen, dass konstruktive Erfahrung und Veränderung begleitet, multipliziert oder sogar möglich gemacht wird und das am besten allein durch den schöpferischen Akt selbst.

Welchen Ansprüchen muss filmisches Schaffen gerecht werden?

Die Effekte gegenwärtiger medialer, ökonomischer und soziokultureller Umbrüche stellen Filmschaffende außerhalb der großen Verwertungsindustrien in Deutschland und der ganzen Welt vor immense Herausforderungen.
Digitale Räume und ihre interaktiven, demokratischen Potentiale haben seit den 90ern hierarchische und hermetische Formen der Medienproduktion und ihre linearen Narrative auf die Probe gestellt. Diese Entwicklungen haben einen Kampf um Einflussnahme und Gestaltungsmöglichkeiten ausgelöst. Dazu bedeuten die gegenwärtige Wirtschaftskrise und zunehmende Prekarisierung einen tiefen Einschnitt in soziale und ökonomische Zusammenhänge. Die Krise manifestiert sich auch in der Kollision unterschiedlicher medialer und medienpolitischer (Re)-Präsentationssysteme, stellt Institutionen und Verfahren gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion endgültig in Frage.

Die daraus resultierenden Entwicklungen sind spannend und verunsichernd zugleich. Wir haben „mehr als nur puren Nachholbedarf in der Entwicklung unserer Medienstruktur und moderner Programme“, merkt Martin Hagemann, Produzent und Vorstandsmitglied der AG DOK, pragmatisch an. In Deutschland zum Beispiel beschränken überholte Kategorien des Filmischen, die exklusiven und überregulierten Verfahren der Film- und Fernseharbeit, unzulängliche Film- und Medienförderung und veraltete Verwertungsmodelle noch immer audiovisionäres, in die Zukunft gewandtes Schaffen. Produzenten, Politik und Verwertungsbetriebe nehmen ihr vielschichtiges, schöpferisches Publikum hierzulande noch immer viel zu wenig wahr und ernst.

Wie sehen die Filme der Zukunft aus und was erzählen sie?


Gleichzeitig entwickeln sich parallele Realitäten der Filmarbeit und ernstzunehmende Gegenöffentlichkeiten. Das Experiment mit Erzählformen, Plattformen und Produktionsweisen, die Diskussion um andere Verwertungskonzepte für neue Öffentlichkeiten im digitalen Raum aber auch im Kunstfeld ist produktiver denn je. Oft jedoch verlieren sich die guten Ansätze der gekonnten Selbstermächtigung im Gerangel der staatlichen Institutionen, Medienkonzerne und privatwirtschaftlichen Akteure um Einflussnahme, Gewinne und Besitzansprüche. Es gelingt nur schleppend, die sich entwickelnden parallelen Realitäten in gemeinsamen Begriffen und Narrativen zu erfassen.

Die bisherige Auseinandersetzung um die Hoheit über Kategorien und Erzählweisen, Produktionsformen, Finanzierungsquellen und Präsentationsplattformen lässt wenig Raum dafür, fähige und audiovisionäre Ansätze relevanten filmischen Schaffens in Web, Kunst, Kino und für ein Fernsehen 2.0 unvoreingenommen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht, folgende Fragen zu beantworten:
 

Welche visionären filmischen Spielarten lassen sich in unserer Medienlandschaft und ihrem internationalen Kontext identifizieren? Welche herausragenden ästhetischen Verfahren und Produktionsweisen lassen sich beschreiben? Welche zukunftsfähigen Produktionsansätze und Verwertungsmodelle entstehen, und wie können sie weiterentwickelt werden? Welchen veränderten Ansprüchen müssen filmische Formate gerecht werden? 

Einen Teil dieser praktischen Forschung wird im Kontext der SEELAND Medienkooperative realisiert werden. Hier soll langfristig eine interaktive Plattform entstehen, die visionäres, relevantes filmaesthetisches Wissen vernetzt, vermittelt, zugänglich und fortschreibbar macht. Fokus meiner Arbeit hier liegt auf gegenwärtigen Tendenzen eines performativen filmischen Schaffens, das sich für eine mutige, faire und inklusive Medienproduktion engagiert.

25. Mai 2015

Bilder, die wir haben. Bilder, die wir brauchen: Über die Grenzen der Repräsentation im Dokumentarfilm

Im Rahmen von united nations revisited "Künstlerische Interventionen im politischen Raum" habe ich einen Vortrag über die Grenzen der Repräsentation in den Dokumentarfilmen Kinshasa Symphony und Congo in Four Acts gehalten. Hier findet sich ein ausführlicher Beitrag dazu.

© Congo in Four Acts, Dieudo Hamadi, Divita Wa Lusala und Kiripi Katembo Siku // Suka Productions 2010




„Das dokumentarische Bild repräsentiert vielleicht.
Es vergegenwärtigt jedoch auf jeden Fall seinen eigenen Kontext: Es bringt ihn zum Ausdruck.“
, schreibt die Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl in Die Farbe der Wahrheit (1). Damit formuliert sie das zentrale Thema dokumentarisch-filmischen Schaffens und seiner politischen Dimension überhaupt. Vergegenwärtigen wir kurz: Repräsentation bedeutet zum einen in der künstlerischen und philosophischen Praxis die „Darstellung“ oder „Vorstellung“ von etwas. In der Politik wird Repräsentation als „Sprechen für“, im „Namen von“ oder „in Vertretung von“ verstanden.

Gerade in der dokumentarfilmischen Praxis aus und über Afrika fallen Aspekte einer politischen und künstlerischen Repräsentation zusammen. Diese strukturellen, formalen und inhaltlichen Verfahren der politischen wie künstlerischen Repräsentation konfrontieren uns jedoch nicht mit den Dingen der dargestellten Welt, sondern mit bestimmten Begriffen, Überlegungen und Modellen dazu. Sie entwerfen die Welt als Bild ihrer Wahrheiten. Weil Bilder wie Wahrheiten nach bestimmten Konventionen der politischen wie kulturellen Macht erzeugt werden, müssen diese stets aufs Neue in Bezug auf ihre Rechtmäßigkeit hinterfragt werden. Filme wie Kinshasa Symphony und Congo in Four Acts bieten den passenden Anlass.

Kinshasa Symphony von Claus Wischmann und Martin Baer wurde unter Schirmherrschaft der deutschen UNESCO Kommission e.V. mit großem finanziellen Aufwand als Kinofilm in Co-Produktion des RBB und WDR im Rahmen der ARD realisiert. Der Film zeigt die Arbeit des einzigen Symphonieorchesters in Zentralafrika, des Orchesters Kimbanguiste.
Im Zentrum des Filmes stehen die Proben für Beethovens 9. Symphonie für das erste große öffentliche Konzert des Orchesters anlässlich des Unabhängigkeitstages. Der Film zeigt die Musiker*innen während der Konzertproben und begleitet neun Personen durch ihr Alltagsleben. Darüber hinaus inszeniert er diese Musiker*innen mit ihren Instrumenten in öffentlichen Räumen der Stadt Kinshasa. Kinshasa Symphony wurde auf Festivals, im Kino und im deutschen Fernsehen gezeigt, gewann diverse Preise und wurde in der Presse vielfach gelobt. Der Dokumentarfilm ist als DVD im Handel erhältlich.

In Congo in Four Acts geben die kongolesischen Filmemacher Dieudo Hamadi, Divita Wa Lusala, Patrick Ken Kalala und Kiripi Katembo Siku in vier voneinander unabhängigen Episoden Einblick in das Alltagsleben des Landes. Sie zeigen Frauen auf einer Entbindungsstation (Ladies in Waiting), die Lebensverhältnisse der Hauptstadt Kinshasa (Symphony Kinshasa), die Ermittlungsarbeit von Polizeibeamtinnen im Kontext alltäglicher, sexualisierter Gewalt gegen Frauen (Zero Tolerance) und die Bedingungen der Arbeit in den Steinwüsten der Minenregion Kipushi (After the Mine). Alle Episoden wurden mit großer Eigeninitiative, gefördert u. a. durch die Cooperation Britannique, Media for Democracy and Accountability und das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam (IDFA) realisiert. Congo in Four Acts ist meist mit Kinshasa Symphony auf Festivals gelaufen, allerdings nicht als DVD erhältlich und wurde im deutschen Fernsehen nur in Ausschnitten gezeigt.

Die öffentliche Wahrnehmung der Filme lässt sich auf folgende Kommentare des Journalisten Dominic Johnson zuspitzen:
„Gerade weil das alles unkommentiert bleibt, wird schlagartig das kongolesische Elend deutlich, die Niedertracht eines Alltags, in dem kaputte und mittellose Menschen sich damit aufreiben, um Brosamen vom Tisch eines reichen Landes zu streiten.“, sagt er zu Congo in Four Acts.  Kinshasa Symphony „… ist dazu die unverzichtbare, weil aus dem Elend hinausführende Ergänzung. (...) Die Musik ermöglicht das, was Kongolesen ansonsten verwehrt ist: Anschluss finden; mitspielen, im wahrsten Sinne des Wortes."

Beide Kommentare treffen die Oberfläche der Filme sehr gut. Aber wie auch die Filme selbst, werfen sie bei tieferer Betrachtung wesentliche Fragen in Bezug auf die Rechtmäßigkeit filmischer Repräsentation im Sinne von „Darstellung oder Vorstellung von“ und „Sprechen für“ oder „im Namen von“ auf: Welche Grenzen hat Repräsentation im Kontext westlich geprägter hegemonialer Diskurse und Kulturpraktiken wie sie auch im Rahmen der UNESCO wirksam werden? Wann ist Repräsentation gehaltvoll, wann gewaltsam? Welche Alternativen gibt es? 

Antworten auf diese Fragen werden nie vollkommen sein, aber einige Überlegungen helfen dabei, ihnen näher zu kommen.

14. Mai 2015

ARGENTINA VICE VERSA: Krise und Wirklichkeit im Neuen Argentinischen Kino (1998 - 2011)

von Anett Vietzke und Veronika S. Bökelmann
>>English version

Wie sehr neoliberale Modelle und ihr Scheitern die Formen von Arbeit und Familie, Privatsphäre und Öffentlichkeit verändert haben, zeigt das Neue Argentinische Kino wie kein anderes. Es entwickelt aus unbändiger erzählerischer Kraft und Humor ein eigenwilliges Bild der Gesellschaft.

aus BUENOS AIRES /SUENO Y CRISIS, Veronika S. Bökelmann und Anett Vietzke, 2014 >> Film anschauen



Bereits in den 90er Jahren kündigt sich die große Argentinische Wirtschaftskrise durch Massenarbeitslosigkeit, zunehmende Schließungen bedeutender Unternehmen und Kapitalflucht an. Dennoch steht die Bevölkerung unter Schock als die Regierung 2001 öffentlich den Bankrott des Argentinischen Staates erklärt.Die Abwertung der Landeswährung und die Sperrung der Bankkonten lösen Massenproteste aus. Die ökonomische Krise wird zu einer umfassenden Krise der Repräsentation: Die Menschen verlieren das Vertrauen in die Politik als demokratische Kraft, in das Geld als verläßlichen Repräsentanten von Wert, die Massenmedien und ihre Art die Realität abzubilden. Argentinien, einst voller Stolz der europäischste Staat Südamerikas, ein Ort der Möglichkeiten und des Wohlstandes, wird quasi über Nacht zu einem Dritte-Welt-Land.Parallel zur internationalen Isolation des Landes entwickelt die lokale Filmindustrie einen quantitativen und kreativen Boom, der weltweit Beachtung findet. Er sucht bis heute seinesgleichen. Eine neue Generation von FilmemacherInnen entwickelt eine genuine Filmsprache, der es gelingt, die radikale Transformation der Gesellschaft zu spiegeln und schöpferisch zu begleiten.

Informelle Produktionsweise und knappe Budgets.

Gerade die Argentinische Filmindustrie ist durch die Wirtschaftskrise in ihrem Mark betroffen. Kosten für Importprodukte wie Filmmaterial verdreifachen sich durch die Abwertung des Peso. Eine Filmförderung existiert kaum noch. Trotz der herrschenden Knappheit, entwickeln sich inspirierende Produktionsstrategien. Gearbeitet wird mit kleinsten Budgets, über lange Zeiträume, buchstäblich im Wohnzimmer der Großmutter, in geöffneten Bars, auf Straßen mit Publikumsverkehr, unterstützt durch Freunde und Familienmitglieder. Viele Filmschaffende produzieren selbst und übernehmen die Rolle von ProducerInnen, Ka- mera – und Schnittleuten für ihre Kolleginnen und Kollegen. Eine offene und informelle Struktur ermöglicht nicht nur größere künstlerische Freiräume sondern führt auch zur Aufweichung fixierter Hierarchien der Filmproduktion. Geschlechtergrenzen werden durchbrochen und standardisierte Formeln des Filmemachens überholt.

Präsentation und Re-präsentation.

Die finanziellen Beschränkungen bestärken die Motivation, etablierte Formen der Darstellung von Realität im Kino zu hinterfragen. Sie erzwingen die Reduktion auf das Notwendige. So verweigern sich die Filme sowohl dem etablierten Symbolismus des durch Hollywood geprägten Konsumkinos als auch didaktischen, politischen Botschaften. Auf seine Art beginnt das Neue Argentinische Kino von Null an. Es widmet sich hochgradig subjektiven Erfahrungswelten, erforscht unterschiedlichste Spielarten des Kleinen, Alltäglichen, Prekären. Die physischen Realitäten des unmittelbaren, krisenbelasteten Umfeldes prägen sich in Form von Drehort, Charakteren, Alltagssprache, Handlung und Zeit maßgeblich in die filmische Arbeit. Dabei verschmelzen die formalen und erzählerischen Formen dokumentarischer und fiktiver Filmarbeiten. Sie stellen die Grenzen von Realität und Fiktion in Frage. Die Filme interagieren auf herausragende Art und Weise mit der Materialität des Hier und Jetzt.


Arbeit, Körper und Zirkulation.

Im Zentrum des Nuevo Cines steht oft das Verhältnis von ökonomischem System, sozialen und intimen Beziehungen. Die 90er Jahre in Argentinien sind eine Zeit des künstlichen Reichtums. Dieser beruht zum ei- nen auf der Peso-Dollar-Parität, zum anderen auf einer kurzfristigen, nur an Profit oriientierten liberalen Wirtschaftspolitik. Die Blase zerplatzt mit dem Crash 2001.
In seinem Film SILVIA PRIETO (1998) zeigt 
Martin Rejtman humorvoll die Sorglosigkeit der 90er Jahre. Totale Austauschbarkeit und scheinbarer Überfluss beginnen jede Beziehung zu zer- und sogar zu ersetzen. Jobs und Partner werden mit der glei- chen Leichtigkeit getauscht, wie eine Jacke oder die Proben des brandneuen Amerikanischen Waschmittels BRITE.

In Pablo Trapero’s MUNDO GRUÁ/ KRAN WELT (1999) wird diese Leichtigkeit durch drohende Arbeitslosigkeit und die Entwertung der Arbeit abgelöst. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und große Konkurrenz machen Arbeit immer knapper. Der alternde Ex-Musiker Ruló ist zu fett für die Arbeit als Kranfahrer. Auf der Suche nach einem Job ist er gezwungen Buenos Aires, Freunde und Familie zu verlassen, um unter widrigsten Bedingungen in der argentinischen Provinz zu arbeiten. Über drei Jahre gedreht, gespielt vom argentinischen Rockmusiker Luis Margani verbindet der Film biografische, dokumentarische und fiktive Elemente in reduzierten schwarz-weiß Bildern.

Erschütterung der Identität.

Ohne jeden staatlichen Schutz verlieren Tausende, durch die Abwertung der Landeswährung während der Krise, mit ihren Sparguthaben auch jede Zukunftsperspektive. CAMA ADENTRO/ LIVE IN MAID (2004) von Jorge Gaggero erzählt den Abstieg der Seniora Beba, die verzweifelt den Schein eines ge- hobenen Lebensstandards zu erhalten sucht. Ihre einzige Vertraute ist ihr Dienstmädchen Dora. Auch als Beba sie nicht mehr bezahlen kann und ihr nobles Apartment verlassen muss, bleibt Dora ihr verbunden. Die Filmcharaktere reflektieren die gesellschaftlichen Positionen der Darstellerinnen: Der argentinische Filmstar Norma Aleandro mimt die Beba, während Dora durch Norma Argentina, vor dieser Rolle als Dienstmädchen tätig, verkörpert wird.

Auch auf einem nationalen Level erlebt Argentinien eine Verkehrung der Verhältnisse. Das einstige Land der ungeahnten Möglichkeiten, wird zu einem Ort, den man verlassen möchte oder muss. In Daniel Burmans ABRAZO PARTIDO/ LETZTE UMARMUNG (2004) träumt der jüdisch- argentinische Ariel von einem polnischen Pass und Europa, um endlich den Dessous-Laden der Mutter ver- lassen zu können. Beide Filme erforschen inwiefern eine Krise, wirtschaftlich oder familiär, dazu zwingt soziale Rollenverteilungen und etablierte Beziehungsmuster zu hinterfragen.

Gedreht auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise 2001 treibt TODO JUNTOS/ ALLES ZUSAMMEN (2002) von Federico León dieses Unterfangen auf die Spitze. Der Film zeigt nicht ohne Humor die Unfähigkeit eines jungen Paares sich zu trennen, bis zur absurdesten Demütigung. Darsteller sind der Regisseur und seine Freundin selbst, die sich damals tatsächlich trennten.


Intimität und Degeneration.

Zunehmende Arbeitslosigkeit, Abstiegsangst und Kriminalität, begleitet durch eine Medienkampagne, welche die allgemeine „Unsicherheit“ beklagt, führen zu wachsendender Segregation der argentinischen Gesellschaft seit Mitte der 90er Jahre. Reiche Familien ziehen sich in geschlossene Wohnanlagen zurück. Es gibt immer weniger Mobilität zwischen den Klassen.

Filme wie LA CIÉNAGA/ DER SUMPF (2001) von Lucrecia Martel oder LOS MUERTOS/ DIE TOTEN (2004) von Lisandro Alonso behandeln Lebenswelten wie geschlossene Systeme. Martel zeigt die Verwahrlosung einer wohlhabenden Familie, die den Bedrohungen der Außenwelt in ihrem Sommerhaus zu entfliehen sucht.

Die größte Gefahr für die Gemeinschaft liegt allerdings in der eigenen, inneren Verunreinigung und der Abwesenheit eines ausgleichenden Äußeren. LOS MUERTOS folgt der labyrinthischen Reise des Outsiders Vargas, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Wie alle Filme Lisandro Alonsos portraitiert DIE TOTEN einen marginalen Lebens- und Arbeitskontext der argentinischen Gesellschaft, der die Welten der Ökonomie und des Konsums nur selten berührt.

Abwesenheit des Staates und Verbrechen.

Im urbanen Western UN OSO ROJO – A RED BEAR (2002) formuliert sich die Rolle des Staates über seine Abwesenheit. Als Bär während der Wirtschaftskrise 2001 aus dem Gefängnis entlassen wird, betritt er ein Buenos Aires in dem Selbstjustiz und Kriminalität das eigene Überleben sichern. Weil niemand sonst es übernimmt, rettet er durch einen Raubüberfall seine Frau und ihren neuen Mann vor dem wirtschaftlichen Ruin. Alles Geld sei schließlich gestohlen, so Bär. Regie führte Adriano Caetano, dessen Debüt PIZZA, BIRRA, FASO/ PIZZA, BIER, ZIGARETTEN das Nuevo Cine Argentino erst begründete.

Willkür, Langeweile und Abhängigkeit bestimmen EL CUSTODIO/DER LEIBWÄCHTER von Rodrigo Moreno (2007). Erzählt wird aus der Perspektive des Bodyguards Rubén Er ist Leibwächter eines voll- kommen unwichtigen Ministers, der absolut nicht in Gefahr ist. Am Ende des Filmes steht dann ein unerwarteter Befreiungsschlag.

Die Unmöglichkeit und Unzulänglichkeit filmischer Re-präsentation von Wirklichkeit und ihre Institutionalisierung durch den Staat steht im Zentrum von LOS RUBIOS/ DIE BLONDEN (2003) von Albertina Carrí. Carrí geht weit zurück in der argentinischen Geschichte. Der Film folgt den Spuren ihrer Eltern, zwei von 30.000 „Verschwundenen“ während der Militärdiktatur von 1976 – 1983. Sie wurden entführt und er- mordet durch den Staat. Durch einen sehr subjektiven Ansatz und die irritierende Verschmelzung doku- mentarischer und fiktionaler Elemente untersucht der Film die Konstitution und Wirkung von Erinnerung und Wirklichkeitskonzeption als auch deren Vereinnahmung.


Andere Welten.

Neuere Arbeiten argentinischer FilmemacherInnen müssen sich oft mit dem Vorwurf auseinandersetzen an Intensität verloren zu haben. Der argentinische Filmkritiker und Theoretiker Gonzalo Aguilar hingegen betont, dass die Leichtigkeit des aktuellen Schaffens ohne die Bemühen des Neuen Argentinischen Kinos nicht möglich gewesen wäre. Heute, so Gonzalo Aguilar, scheinen die unterschiedlichsten Lebensrealitäten in Argentinien einander wieder zu berühren, – im Alltag, in der Arbeit und Kunst, der Familie und Öffentlichkeit. Neue Verbindungen sind geknüpft worden, eigene Ideen der Gemeinschaft entstanden und verwirklicht.

In SUEDEN (2008) beispielsweise betritt der Komponist und Dirigent Mauricio Kagel den Filmraum. Kagel kommt nach 35 Jahren zum ersten Mal in seine Geburtsstadt Buenos Aires zurück, um hier mit lokalen Musikern Beeindruckendes zu leisten. In LOS LABIOS/ DIE LIPPEN (2010), eine Zusam- menarbeit von Ivan Fund und Santiago Loza, verlassen drei Frauen die große Metropole, um in der Provinz soziale Arbeit zu leisten und die Gesundheitsvorsorge der ländlichen Bevölkerung sicher zu stellen. Doch anstatt Milieus und Gegensätze zu betonen, verzichtet DIE LIPPEN vollkommen darauf und wird zu einer Begegnung verschiedener Realitäten in Respekt und Offenheit.

Ein absolutes Meisterwerk schafft schließlich Marian Llinas mit HISTORIAS EXTRAORDINARIAS/ AU- SSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN (2008). Diese spannende und unkonventionelle Kollaboration von Film- und Theaterschaffenden bringt Ästhetik und Strategien des Neuen Argentinischen Kinos auf den Höhepunkt. Das ist Filmkunst vollkommen abseits der bloßen Reproduktion etablierter Formen, Narrationen und Wirklichkeitskonzepte. Das ist das Kino der Zukunft.

Die erste und englische Fassung des Textes entstand für die Cinemathek in Oslo. 2011 entwickelten Veronika S. Bökelmann und ich hier in Kooperation dem Norwegischen Filminstitut und der Argentinischen Botschaft (Oslo) ein Filmprogramm und eine Vortragsreihe. Bis 2012 waren wir damit unter anderem an der Kunsthochschule Oslo, der HFF München, der Filmakademie Baden-Württemberg oder in der Vierten Welt (Berlin) zu Gast. 
Da die Filme des Neuen Argentinischen Kinos brennend aktuell bleiben, möchte ich hier die deutsche Fassung zur Verfügung stellen. Einige der Filme sind in unseren Breitengraden nicht erhältlich. Ich verleihe sie deshalb gern kostenfrei für private Vorführungen. Für weitere Fragen und Vorträge stehen wir gern zur Verfügung.